Als ich im Frühjahr 2017 in den Allard Pierson Theatersammlungen der Universität Amsterdam auf den Nachlass der Internationalen Konzertdirektion Ernst Krauss stieß, ergriff „der Wunsch mit den Toten zu sprechen“ zweifellos Macht von mir.
Der in Deutschland geborene Karl Ernst Krauss (1887 – 1958) war eine Person des öffentlichen Lebens in den Niederlanden. In Amsterdam hatte er seit den 1920er Jahren eine Künstleragentur betrieben und BühnenkünstlerInnen von Weltrang europaweit vermittelt. Sich selbst hingegen hatte er aber vor allem als Dichter betrachtet. Beides – sein literarisches Werk, wie auch sein Wirken als Kunstvermittler sind nach seinem Tod 1958 schnell in Vergessenheit geraten. Die letzte Person, welche die Lebenszeugnisse des Impresarios, Dichters und Kulturmenschen Ernst Krauss in den Händen gehalten hatte, war vermutlich 1991 Desiree Groote gewesen – zum damaligen Zeitpunkt Studentin der Kulturwissenschaften an der Amsterdamer Universität, die im Auftrag des Niederländischen Theaterinstituts den Krauss-Nachlass inventarisiert hatte.
„Damit wir dies mal benennen: Ich meine, dass beim Sammeln von Texten immer die Lust im Hintergrund steht, sich die Texte einzuverleiben, beim Editieren von Texten, die Lust die Texte zu verkörpern, beim Kommentieren von Texten ist es die Exuberanz, dass es viel wird, dass man sich selbst schwer macht, beim Historisieren von Texten die Abwendung von der Erfahrung des physischen Todes und schließlich beim Lehren von Texten eine Deixis ein im körperlichen Sinn Verweisen von etwas.“
Hans Ulrich Gumbrecht, Die Macht der Philologie, 2003
Während ich weitere 26 Jahre später, und 60 Jahre nach Krauss’s Tod erneut durch die Fotografien, Briefe, Zeitungsausschnitte, Künstlerportfolios in den Archivmappen seines Nachlasses blätterte, wurde mir klar, was Gumbrecht damit gemeint haben musste, dass hinter den Tätigkeiten des Sammelns von Fragmenten, des Editieren von Texten sowie ihrer Kommentierung und Historisierung die Sehnsucht nach „Präsenz“ der Vergangenheit“ stehe – ein quasi religiöses Motiv, das als Wunsch aufzufassen sei, mit den Toten zu sprechen und an deren Unsterblichkeit teilzuhaben. Möglicherweise lösten die Papiere im Krauss-Nachlass gerade deswegen bei mir diesen Wunsch nach der Präsenz von Vergangenheit aus, weil das vollkommene Vergessen, dem Ernst Krauss’s Existenz anheimgefallen war, in so krassem Widerspruch steht zu seinen eigenen Bemühungen, zu Lebzeiten Nachruhm zu erlangen. Von Ernst Krauss’s Leben ist aber – um in der Metapher zu bleiben – buchstäblich nichts als das Papier geblieben, von dem er sich seinerzeit das literarische Überleben erhoffte. Die Präsenz dieses Materials rührte mich in der Folge mehr an, als die mögliche Belegmacht der Dokumente für meine zu schreibenden historiografischen Betrachtungen. Neben meinen Recherchen zu den historischen Umständen der Europa-Tournee des indischen Menaka-Ballett, die Krauss 1936 produziert hatte, ging ich daher auch den Umständen von Ernst Krauss’s Existenz nach, angetrieben von dem Wunsch, mir die Archivalien in seinem Nachlass „einzuverleiben“ – sie körperlich so nahe wie möglich zu bringen.
„So kehrt ich an die Zukunft meine Frage,
Da jüngst ich an die Fensterscheibe trüb
An kaltem regnerischen Tage
Mit meinem Finger Deinen Namen schrieb
Ob dauern er in Lieder und in Sage? –
Doch ob auch schwül der Raum:
der Name blieb!… .“
Ernst Krauss gewidmet von Christian Wagner Warmbronn, in „Ernst Krauss ein Lebensweg“, Heinrich Schäff, 1930