Der Geschmack der Erinnerung

Ein Gespräch mit Paullumi Bishnawath Mukherjee

Tänzerin, Lehrerin, Schauspielerin und Autorin, Nachlassträgerin einer bedeutenden Künstlerfamilie und Preisträgerin in zahlreichen nationalen Tanzwettbewerben – Paullumi Bishnawath Mukherjee hat eine vielseitige Karriere in der Kathak-Welt vorzuweisen. 1987 gewann sie als junge Studentin den von der Bombay-University gestifteten Menaka-Award für ihre Kathak Solo-Performance. Erst viel später stellte sie fest, welche verborgenen Spuren der Name Menaka über eine bloße Wettbewerbstrophäe hinaus, in ihrer eigenen künstlerischen Laufbahn zu diesem Zeitpunkt bereits hinterlassen hatte.
Im Augenblick recherchiert Paullumi für ihre PhD-Arbeit das Netzwerk der indischen Tanzszene in den 1930er Jahren, als die junge Leila Roy alias „Madame Menaka“ die Grundlagen von Kathak bei jenen Meistern der Lucknower Tanzschule studierte, bei denen Paullumi selbst viele Jahre später ihre Tanzausbildung absolvieren sollte. Die Autorinnen des Menaka-Archivs haben sich mit Paullumi zu einem Quellen- und Gedankenaustausch getroffen. Protokoll einer anregenden Begegnung.

Paullumi Bishnawath Mukherjee hält 1987 den Menaka-Award in den Händen; Madame Menaka in einer Tanzpose Anfang der 1930er Jahre

Ein Preis von ungeahntem Gewicht

Im Dezember 1987 zeigen die Bombayer Zeitungen ein auf den ersten Blick unscheinbares Bild: die Studentin Paullomi Mukherjee hält den Menaka-Award für die beste Kathak Solotanzleistung im Wettbewerb der Bombay-University in der Hand. Sie hat den Preis zu diesem Zeitpunkt bereits zum zweiten Mal in Folge gewonnen. Paullumi blickt stolz in die Kamera. Als sie mir dieses schwarz-weiße Zeitungsfoto von ihrem Mobiltelefon aus sendet, bin ich unwillkürlich an jene Bilder aus dem Jahr 1936 erinnert, die entstanden, als die jungen Mädchen aus Menakas Kompanie – Damayanti, Vimala und Malati, in Berlin die Preise des olympischen Tanzwettbewerbs entgegennahmen und ebenso stolz – und wohl auch etwas scheu in die Kameras deutscher Pressefotografen blickten.
Der enorme silberne Pokal wiegt offenkundig schwer in Paullumis Händen, obwohl er doch ganz im Zeichen tänzerischer Leichtigkeit steht. Die Figur, die den Tanzpokal ziert, ist mir vertraut. Sie ist detailliert einer Fotografie aus dem Jahr 1934 nachgebildet, auf der Leila Roy in einer Drehbewegung festgehalten ist. Die Fliehkraft der Körperdrehung hat ihren Fächer-Rock zu der charakteristischen Tülle ausgebreitet, die heute das Bild vieler Kathak-Aufführungen prägt. Menakas Arme sind ebenso grazil wie energetisch über den Kopf erhoben. Es handelt sich um eine jener Gesten, die 1936 deutsche Tanzkritiker fasziniert als „Sprache der Hände“ zu enträtseln versuchten.
In dem Bild von der jungen Preisträgerin, die den Award der Tanzpionierin in den Händen hält, ist viel eingefangen von der Situation in der Paullumi heute, über dreißig Jahre nach ihrem Wettbewerbserfolg und nun mit den Augen der Historikerin, die Geschichte ihres eigenen künstlerischen Werdegangs rekonstruiert.

Paullumi Bishnawath Mukherjee bezeugt ihren Gurus Ramadevi Lachhu Maharaj and Lachhu Maharaj Respekt.

Paullumi macht keinen Hehl daraus, dass sie damals, 1987, mit der Namenstifterin ihres Pokals wenig anzufangen wusste.  Sie sei eben eine junge Studentin gewesen, sagt sie. Ihr sei es allein ums Tanzen gegangen – und wohl auch ums Gewinnen. Zwar sei der Name Menaka hier und dort in den einschlägigen Tanzpublikationen in Indien zu lesen gewesen, darüber hinaus war aber allgemein wenig zu den genaueren historischen Umständen bekannt. Und im Gegensatz zu ihrem Zeitgenossen Uday Shankar – der wie Paullumi betont – im Gegensatz zu Menaka immerhin künstlerische Erben hatte, die seine Arbeit fortführten, blieb die Welt der Tanzpionierin Menaka von einem eigenartigen historischen Nebel verhüllt. Tatsächlich war Paullumi dieser Welt aber viel näher, als ihr zu diesem Zeitpunkt bewusst war. Als Schülerin von Ramadevi Lachhu Maharaj steht sie nämlich in direkter Verbindung mit Lachhu Maharaj selbst – eben jenem Kathakmeister der Lucknow-Gharana, der 40 Jahre zuvor Leila Roys Guru und Mentor gewesen war. Er hatte – wie zuvor schon eine Reihe weiterer Lehrer aus dem Umfeld der Lucknow-Gharana – die künftige Madame Menaka ausgebildet, ihre tänzerische Karriere begleitet und Anteil an ihrer künstlerischen Entwicklung genommen. Leila Roy war auf diese Weise tief eingebettet in das weitverzweigte Künstlernetzwerk der Maharaj-Familie aus Lucknow. Lachhu Maharaj überlebte seine Schülerin, die 1947 im Jahr der indischen Unabhängigkeit überraschend jung gestorben war, um dreißig Jahre. Und wiederum zehn Jahre später – nachdem auch Lachhu Maharaj die Tanzwelt für immer verlassen hatte – wunderte es daher nicht, dass seine künstlerische Nachfolgerin Ramadevi auf besondere Weise gerührt war, als mit Paullumi eine Repräsentantin aus der übernächsten Schüler-Generation der Maharaj-Familie den Menaka-Award entgegennahm.

Ein seltenes Bild von Lachhu Maharaj (1901-1978). Er unterrichtete Leila Roy, die spätere Madame Menaka, in den 1930er Jahren. © Nrityadarpana Foundation Library, Mumbai.

Seit den Tagen in den 1930er Jahren, als es noch ein aufsehenerregendes Gesellschaftsereignis war, dass eine Frau aus der Oberschicht in Indien öffentlich Tänze aufführte, ist aus der Lucknow-Gharana ein kontinuierlicher Strom von klassisch ausgebildeten Kathaktänzerinnen hervorgegangen. Menaka wird zugutegehalten, die Tür für diese heutige Akzeptanz von Tanz in der Gesellschaft weit geöffnet zu haben. Dennoch ist ihr in der Sache der tänzerischen Ästhetik keine ihrer Schülerinnen und Protegées auf ihrem experimentellen Weg gefolgt. Menaka bleibt in gewisser Weise ein missing link in der Tanzgeschichte und es liegt daher auf der Hand, die Beziehungen zwischen den Meistern der Lucknower Schule wie Lachhu Maharaj und der Tanzpionierin Menaka genauer in den Blick zu nehmen.
Das ist es, was Paullumi heute, auf der Basis ihrer eigenen Expertise in der Tanzgeschichte beschäftigt. So wenig sie damals bei ihrem Preisgewinn mit dem historischen Kontext befasst war, um so ernster ist es ihr nun damit, einige der historischen Menaka-Bezüge, mit denen sie selbst in Verbindung steht, nachzuvollziehen.

Wo war Nrityalam?

Im Verlauf unseres Gesprächs nimmt uns Paullumi mit auf eine Reise durch eine fragile Erinnerungslandschaft, bei der Schritt für Schritt, das Bild eines Indiens im künstlerischen Aufbruch Konturen annimmt. Sie wendet sich gedanklich jenen Orten zu, an denen Lachhu Maharaj vor neunzig Jahren ein- und ausgegangen war. Es sind Orte, die wir nur aus der Schilderung von Dritten kennen als Zentren künstlerischen Unternehmergeistes: der Haushalt der Familie Roy-Sokhey auf dem Geländes des Haffkin-Institutes in Bombay – und später Leila Roys Herzensprojekt  – Nrityalam – ihr Tanzzentrum, abgelegen vom Großstadttrubel Bombays, in der Natur der kleinen Hill-Station Kandala.
Diese Orte hatten einmal bedeutsame Knotenpunkte auf der überschaubaren Landkarte des modernen Tanzes in Indien gebildet. Heute bedürfte es ausführlicher Recherchen in Grundbüchern, Immobilienlisten, im Archiv des Haffkin-Instituts, oder in allen erdenklichen amtlichen Unterlagen, um die Lage dieser Orte überhaupt wieder aufzufinden und zu identifizieren.
In Paullumis Erzählung wird das schmerzliche Fehlen der Materialität dieser Orte in ihrer Funktion als Gedächtnisstütze deutlich. Es zeigt sich einmal mehr, wie schwierig der Blick zurück in eine Epoche künstlerischer Performativität ist, in der man auf Dokumentation noch lange nicht in der gleichen Weise bedacht war wie heute, wo kaum ein öffentlicher Schritt ungefilmt, gestreamt, geteilt und geliked bleibt. Nun liegen die wenigen verstreuten Dokumente der frühen Tanzmoderne Indiens vor uns und jedes einzelne Fundstück wird ebenso zur Offenbarung wie zum Rätsel.
Vor allem eine Frage steht angesichts dieser prekären Quellenlage im Raum: Was war das für eine Zeit, als bei der Vermittlung von Kathak der – wie Suman Bhagchandani schreibt – Wechsel vom „Hof zum Klassenzimmer“ noch nicht vollständig vollzogen war?[1]
Die Beziehung zweier so unterschiedlicher Figuren wie der künstlerischen Kosmopolitin Leila Roy und des traditionsgeprägten Tanzlehrers Lachhu Maharaj aus Lucknow lässt etwas von der vibrierenden Atmosphäre erahnen, in der die Konturen der heutigen klassischen Tanzwelt Indiens neu gezogen wurden. Eine Phase der Hinwendung zu neuen/alten Themen und Stoffen, zu einem Mix der Formen und Sujets, zu einer Umarmung der neuen Medien, zur Eroberung eines neuen Publikums und neuer Räume für den Tanz, ein Ausnahmezustand an der Schwelle zu etwas Neuem, den diese kulturelle Experimentierphase darstellte, eine Phase, während der die Tür geöffnet wurde für eine gesellschaftliche Rehabilitierung des Tanzes, eine Zeit, in der sich die indische Nation ihrer kulturellen Wurzeln vergewisserte – und ein kreativer Strang, der mit dem frühen Tod Leila Roys abrupt abgeschnitten wurde.

Und noch etwas von der aufgewühlten Stimmung dieser Zeit klingt in Paullumis Erzählung nach, wenn sie darüber spricht, wie im Kontext der künstlerischen Reformbewegung in Indien Anfang des 20. Jahrhunderts die Kluft zwischen den gesellschaftlichen Schichten der traditionellen Performerinnen, den höfischen Kunstbildungsstrukturen und dem neuen bürgerlichen Publikum hervortrat. Wie schwer die kulturellen Konventionen und das gesellschaftliche Stigma auf der Kaste der tanzpraktizierenden Mädchen und Frauen lastete, kennt Paullumi noch aus dem unmittelbaren Erleben ihrer eigenen Lehrerin, die persönlich erfahren hatte, was es heißt, mit abschätzigen Blicken als „baiji“ (Kurtisane), betrachtet zu werden. Die prekäre Lage der tanzenden Mädchen und Frauen – der „baiji“ und Nautch-girls löste auch eine progressive Reformerin wie Menaka nicht auf, denn sie war peinlich genau darauf bedacht, keine Mädchen aus der als anrüchig betrachteten Unterschicht in ihr corps du ballett aufzunehmen.[2]

Bewegte Erinnerung

Paullumi lässt die Erinnerungen an ihre eigenen ersten Berührungen mit dem Tanzen und an ihre Ausbildung Revue passieren. Überschaubar erscheint diese kleine Welt des Tanzes zu jener Zeit – ein abgezirkelter Bereich von Schulen, Einflüssen, Wissen und Praktizierenden, in der Jede Jeden kannte und Neuigkeiten schnell die Runde machten. Paullumi erinnert sich beispielsweise eindrücklich an ihre persönlichen Begegnungen mit Damayanti Joshi. Von ihr haben wir den einzigen zusammenhängenden Bericht zur Geschichte der „Madame Menaka“. Mit Damayanti Joshi kommt die erste Generation tanzender Frauen in den Blick, die in der Nachfolge Menakas an die indische Öffentlichkeit traten und die alle ihre eigenen künstlerischen Wege gingen. Es ist diese erste Zeitzeugen-Generation, von deren Vertreterinnen sich heute nur noch wenige  persönlich befragen lassen. Und es ist das Paradigma der Enkelgeneration, jetzt Fragen zu stellen, um das Wissen neu zu justieren. Angesichts der grassierenden Corona-Pandemie in Indien zum Zeitpunkt unseres Gesprächs zeigt sich zudem, wie prekär dieser Wissenstransfer im Augenblick ist. Nicht nur dass der Zugang zu Bibliotheken und Archiven, so wie vielerorts auf der Welt, versperrt ist, sondern auch dadurch, dass einige wichtige Autoren auf dem Gebiet der Tanz- und Geschichtswissenschaft in Indien innerhalb kürzester Zeit verstorben sind. Paullumi erinnert daran, dass mit Sunil Kothari, Laxminarayan Garg, Yogesh Praveen und Yogendra Pratap Singh einige der wichtigsten Experten-Stimmen vermisst werden, deren Verlust wohl erst in den kommenden Jahren in seiner ganzen Bandbreite spürbar werden wird.
Im Verlauf unserer Unterhaltung wird mir so einmal mehr bewusst, auf welche besondere Weise das Wissen im Bereich des Tanzes verteilt ist: auf die Körper der Praktizierenden, auf die aktiven Gedächtnisse sowie auf die wenigen materiellen Fragmente von ebenso vergänglichem Papier oder Celluloid – die nun nach und nach in der flüchtigen digitalen Welt auftauchen. Es gibt in Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ die berühmte Szene, in welcher für den Erzähler durch den Geschmack eines in Tee getunkten Gebäckstücks schlagartig die Erinnerung an seine gesamte Kindheit zurückkehrt.
Paullumi beschreibt etwas ganz Ähnliches, wenn sie davon erzählt, in welcher Weise das Wissen ihrer Lehrerin an sie selbst weitergegeben wurde: „While we were travelling Guruji started to talk about something. Why is she telling me that while we are travelling? The memory comes back!“ Heute bedauert sie, dass es damals noch keine Technologie gab, um die Momente der Erinnerung, die sich an einem Ort, an einem Geschmack, an einer Bewegung oder einem Klang entzündeten, auf unkomplizierte Weise festzuhalten. Etwas von diesem Proust‘schen „Madeleine-Moment“ steckt auch in der Weise, wie Paullumi noch einmal gedanklich den Menaka-Pokal in die Hände nimmt, während wir über ihre Erinnerungen sprechen. Und es ist, als ob auch dieses Reden den Erinnerungsprozess in Gang setzt. Für einen Augenblick nehmen die nicht begehbaren Orte der Menaka-Geschichte – zumindest in der Imagination konkrete Gestalt an und füllen sich mit Leben.

 

[1] Bhagchandani, Suman: „Institutions of Change: Kathak dance from Courts to Classrooms“, in: The Chitrolekha Journal on Art and Design 2/1 (2018), www.chitrolekha.com/ns/v2n1/v2n104.pdf.

[2] Joshi, Damayanti: Madame Menaka, New Delhi: Sangeet Natak Akademi 1989.