Historische Perspektiven der indischen Tanz-Moderne

Feldforschung in Delhi, Kolkata und Chennai

„Dance perhaps more than any other art is very hard work. No amount of mere enthusiasm can take the place of work. It cannot be over-stressed, that dance has got to be learnt, the mastery of technique has got to be painstakingly gained and so called inspiration cannot take its place. […] In fact it must be dance and must be jugded as such and not as something peculiar and to be passed because it is Indian, however childish and idiotic it may be. It must express the life and emotions of our nation and not be mere ethnographic posturing.“
„Dance in India“ by Menaka, September 1933 in Sound&Shadow, Madras

Menakas „Indisches Ballett“ gilt als einer der ersten Ansätze der Neudefinition von Tanz in Indien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vor allem ihre Beschäftigung mit dem Kathak-Stil wird als Beitrag zu einer Revitalisierung klassischer Tanztechniken und damit der Rehabilitierung eines klassischen Repertoires künstlerischer Ausdrucksformen im Kontext der Herausbildung nationaler Identität Indiens gelesen. Tatsächlich war Menakas Projekt mindestens ebenso getragen von den Ideen der künstlerischen Avantgarde in Europa und ist vor allem als Produkt einer derart interkulturell verflochtenen Modernität zu verstehen. Im Rahmen einer Forschungsreise im Februar 2018 nach Neu-Delhi, Kolkata und Chennai haben wir  begonnen, einige der 1936–38 geknüpften und später verloren gegangenen Verbindungen zwischen Deutschland und Indien wiederaufzunehmen. Wir haben uns darum bemüht, in der vitalen zeitgenössischen Kathak-Tanzszene von Delhi Zeitzeug_innen ausfindig zu machen, welche den Nachhall des kulturellen und sozioökonomischen Wandels der Tanzszene noch mit eigenen Erinnerungen ergänzen und vergleichen können. Es ging uns zunächst darum, diese Zeugnisse als fragmentierte Erinnerungslandschaften zu kartografieren. In unserem Gepäck befanden sich dazu ein umfangreiches Konvolut von Archivmaterial aus Deutschland, das in Indien zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt war. Dieses in Europa gefundene Archivmaterial haben wir mit Künstler_innen und Historiker_innen in Indien gemeinsam gesichtet und ihre Reaktionen und Reflexionen dazu dokumentiert.

Kathak – der Tanzstil, aus dem Menaka viele Elemente für ihre Choreografien entlehnte, wird heute im Kontext der Revitalisierungs- und Innovationsbemühungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrachtet. Die Historikerin Margaret Walker zeichnet in ihrer Monografie zur Geschichte des Kathak die Transformation der ehemals höfischen (Tanz-)Unterhaltungskultur in eine bürgerliche Repräsentationskultur nach. Sie bezeichnet das heute in Indien praktizierte klassische Tanzrepertoire als Ergebnis eines Gentrifizierungsprozesses, der auch von der europäischen Theaterwelt informiert war.[1]

Die Frage nach jenen spezifischen Markern von verflochtener Modernität in den Projekten der indischen künstlerischen Avantgarde war Gegenstand einer Recherchereise nach Indien im Februar 2018. In Neu-Delhi, Chennai und Kolkata haben wir Künster_innen und Historiker_innen aufgesucht und gemeinsam Lesarten und Perspektiven einer Auswahl von Fundstücken aus europäischen Archiven diskutiert. Die Stimmen unserer Gesprächspartner_Innen zeichnen ein differenzierteres Bild der indischen Tanzmoderne jenseits des „Rettungsparadigmas“ unter dem Menakas Projekt bisher weitestgehend als Teil nationaler Identitätsfindung gelesen wurde.
Der Tanzhistoriker Ashish Mohan Khokar verortet Menakas Projekt in den Wechselbeziehungen von europäischer und indischer Tanzmoderne nach. Er beschreibt einen Zusammenhang von Indiens politischer Geschichte, der Genese der klassischen Künste und  der Institutionalisierung der musikalischen und tänzerischen Ausbildung

Der Tänzer und Historiker Bharat Sharma, Direktor am Bhoomika Creative Dance Centre in Delhi vergleicht die künstlerischen Ansätze in den Projekten von Menaka und ihrem Zeitgenossen Uday Shankar, und beschreibt den Prozess der Herausbildung eines klassischen Kanons für die performativen Künste in Indien auf der Grundlage der Wiederentdeckung alter Sanskrit-Texte wie dem Natyashastra.

Kathak-Guru Geetanjali Lal erinnert sich an den Transformationsprozess in den Strukturen der indischen Tanzszene Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie beschreibt anschaulich die Konflikte, unter denen die performativen künsterischen Praktiken in den Kreisen der bürgerlichen Gesellschaft etabliert wurden.

Vom 2.-4.Februar 2018 fand im Kamani Auditorium in Delhi anlässlich des 80. Geburtstags von Pt. Birju Maharaj, dem herausragenden Vertreter des zeitgenössischen Kathak-Tanzes in Indien, das „20. Vasantotsava – dance and music festival“ der Kalashram School of Dance and Music statt. Birju Maharajs Schülerinnen und Schüler, KünstlerfreundInnen und Familienangehörige ehrten ihren Tanz-Lehrer mit Darbietungen. Das Festival demonstrierte eindrücklich, wie Kathak heute in Indien als Teil einer breiten bürgerlichen Kultur gelebt wird und wie sich Kathak als Kunstform internationalisiert hat.

[1] „The revival, moreover, was part of the larger nationalist movement that was a project of the European-educated Indian middle class, and middle-class reformers played a central role in the classicization, institutionalization and gentrification of both music and dance. “ Walker 2014, S. 117.