Produktionslogiken ästhetischer Erfahrung

Die Kunstvermittlungspraxis der „Internationalen Konzertdirektion Ernst Krauss“ in Amsterdam 1927-1957

In den 1920er und 30er Jahren spielte die Agentur des Dichters und Kunstvermittlers Ernst Krauss eine Schlüsselrolle bei der Produktion und Vermittlung von zeitgenössischen internationalen Tanzprojekten. Anhand des literarischen Werks und der Praxis von Krauss’s Unternehmen zeichne ich in diesem Text einen spezifischen Transfer religiöser und ästhetischer Erfahrungen zwischen Asien und Europa in den performativen Künsten am Beginn des 20. Jahrhunderts nach.

Hintergrund: Tanz in Metropole und Peripherie – Verflechtung lokaler Modernität zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Zur Geschichte der Ausdifferenzierung von Religion und Kunst als funktionalen Teilsystemen der modernen Gesellschaft gehört nicht nur eine Neubestimmung des Begriffs „Erfahrung“ , sondern auch in besonderer Weise die Obsession der Avantgarde für die außereuropäische Kunst. Sie ist geradezu ein Gemeinplatz in den Erzählungen der Moderne. Die Auseinandersetzung mit dem „Primitiven“ infolge der Dynamik des ersten großen Globalisierungsschubes Ende des 19. Jahrhunderts leitete nicht nur eine fruchtbare Phase für die europäische Kunst ein, sondern brachte auch überall an den Rändern der kolonialen Hegemonie lokale Modernitäten hervor, welche die Moderne nicht nur in ihren widersprüchlichen inhärenten Gewalten reproduzierten, sondern diese auch appropriativ zu nutzen wussten. Die Moderne – schreibt der Kunsthistoriker Partha Mitter, sei nicht lediglich ein eurozentrisches koloniales Projekt, sondern vor allem ein Diskurs, der die Tradition überall auf der Welt in jeder Hinsicht herausforderte – und damit Medium eines „aktiven Prozesses der wechselseitigen Aneignung, Transformation und Neudefinition von Kulturelementen“ darstellte. Nicht die Frage, wer dabei wen beeinflusste, sei dabei von Belang, sondern vielmehr die Frage, wie sich in den verschiedenen lokalen Kontexten ästhetische und soziale Paradigmenwechsel vollzogen. Dennoch bleibt – wie Erhard Schüttpelz schreibt – die Auslegung der Moderne „ein abgekartetes Spiel“, solange die Frage, was die Kategorie des sogenannten Primitiven für die Moderne tatsächlich bedeutete, nicht in ihrer ganzen Konsequenz gestellt wird.

Die 1920er und 30er Jahre konfrontierten Europa auf besondere Weise mit den Früchten einer verflochtenen Kulturgeschichte der Moderne, als Künstler*innen von der kolonialen Peripherie her die Bühnen der europäischen Hochkultur zu erobern begannen.
Schon Anfang der 1920er Jahre hatte der balinesische Prinz Raden Mas Jodjana (1870-1960) indonesische Tänze in Europa präsentiert , 1931 feierte der junge bengalische Choreograph und Tänzer Uday Shankar (1900-1977) mit seiner Kompanie einen spektakulären Erfolg zunächst in Paris, und dann auf der daran anschließenden Welttournee. In der Folge präsentierten eine Reihe von KünstlerInnen vor allem TänzerInnen und MusikerInnen aus Asien ihre Projekte in Europa.

1936 schließlich brachte die Choreographin Leila Roy alias Menaka (1899-1947) ihr „Indisches Ballett“ nach Europa. Wie auch ihr Vorläufer Uday Shankar setzte „Madame Menaka“ sich für eine Revitalisierung traditioneller Tanztechniken in Indien ein. Ihr Projekt war die Formulierung einer lebendigen indischen Tanzkunst, die in den überlieferten Tanztechniken wurzeln – aber zugleich dem erwachenden nationalen Selbstbewusstsein Indiens einen zeitgenössischen Ausdruck verleihen sollte.
In den Augen des europäischen Publikums war der stilistische „Primitivismus“ in den Shows Uday Shankars und Menakas aber nicht nur ein Widerhall der kolonialen Peripherie – wie etwa in der Malerei der klassischen Moderne, sondern die Aufführungen der indischen Performer waren populäre Sensationen, die ein breites Publikum ebenso wie die bürgerliche Elite ansprachen. Die Programme der indischen Künstler stellten „ethnografische Spektakel“ dar, die Qualitäten auf den unterschiedlichsten Ebenen aufwiesen und daher nicht nur als exotische Unterhaltung betrachtet wurden, sondern in der Weise, wie sie multi- und synästhetische Erfahrungen produzierten, neben ihrer ästhetischen – auch eine epistemologische und spirituelle Dimension aufwiesen. Die Rezeption der Tanzkompanien aus Indien zeigt, wie indischen PerformerInnen das europäische Publikum nicht nur mit dem konstitutiven Außen Europas konfrontierten, sondern vor allem auch mit einer der ureigenen traumatischen Antriebskräfte der Moderne selbst – dem wie Inge Baxmann schreibt – Gewahrwerden ihrer Geschichtsverlorenheit. Genau in der Bewusstwerdung des Problems, dass Geschichte nicht mehr zwangsläufig zum besseren fortschreitet. – also „unter der Prämisse, dass ohnehin kein »Ziel« zu erwarten sei“, läge (vor allem mit Nietzsche begründet) die Geburtsstunde der modernen Zivilisationskritik und deren Weiterführung durch die künstlerische Avantgarde.

Impressario Ernst Krauss met de befaamde danseres Thamar Karsavina en partner Keith Lester in het Victoria Hotel, Amsterdam. Nederland, 1929. fotograaf: Fotograaf onbekend Vervaardigingsjaar: 1929 Collectie: Fotocollectie Het Leven (1906-1941)

Die indischen TänzerInnen, die in den 1930er Jahren unter anderem mit Menakas Kompanie in Deutschland zu sehen waren, zielten mit ihrer scheinbar kulturellen Ganzheit – ihrer offenbar intakten Spiritualität ins Herz des europäischen Geschichtsverlustes – und deren anschaulichster Auswirkungen – dem Bedeutungsverlust der Religion. Die unterschiedlichsten Strömungen der Antimoderne – angefangen von den pädagogischen und künstlerischen Reformbewegungen und ihren Wiedergängern in den politischen Utopien – waren ja in der ein oder anderen Weise damit befasst, die Diagnose von der Spaltung des modernen Subjekts aufzufangen. Ersatzreligiöse Praktiken hatten daher bekanntlich im Umfeld der Lebensreform Konjunktur – wie in der Hinwendung zur Natur, zum Körper, zu fernöstlicher Spiritualität, oder rituellen Praktiken von Naturvölkern. Diese Obsession der Moderne für den kulturellen Ursprung wiederum hatte zwei Seiten: man ging ihr mit den Methoden und Technologien der modernen Wissenschaft – sprich: der Ethnologie nach – und man las die – angeblich noch auf gesunder Weise im Kult verwurzelten fremden Kulturen als Vorbild für die geistige Erneuerung des neuen westlichen Menschen.
Folklore, auf der auch die indischen Künstler ihr Programm aufgebaut hatten, wurde so – wie Baxmann schreibt – in besonderer Weise „zum Umschlagplatz, auf dem Strukturen der Erfahrung, der Emotionen und des Wissens konvergieren, aber auch Kämpfe um die Konstruktion von Tradition und die Neudefinition des Populären ausgefochten wurden.“
Das Feld der bürgerlichen europäischen Kunst wiederum hatte sich zu einem solchen Umschlagplatz der Erfahrung und der Emotion schon seit dem 19. Jahrhundert entwickelt – und zwar auch – wie beispielsweise Bourdieu anhand der Genese des literarischen Feldes nachzeichnet, aus einer spezifischen Verquickung symbolischer und ökonomischer Kreisläufe. Der Umstand, dass die moderne Kunst von der Avantgarde zu einem universellen Heilsversprechen stilisiert werden konnte, lag demnach auch in der Weise, wie sich die Kunst in jenem paradoxen Feld einer „umgekehrten Ökonomie“ entwickelt hatte: in der Behauptung ihrer Autonomie unter gleichzeitiger Ausklammerung ihrer kommerziellen Motive. Das l’art pour l’art der Avantgarde war das Credo dieses kunstreligiösen Paradigmas.
Mit der doppelbödigen, in der Dynamik der Moderne wurzelnden Autonomiebehauptung der Kunst war auch für die künstlerischen Projekte aus Asien ein geistiges Feld bestellt. Zugleich bildeten sich aber auch um das neue Genre der ethnografischen Spektakel ökonomische und logistische Infrastrukturen heraus.
Mehrere hundert Aufführungen absolvierte von 1936-1938 Menakas Ballettgruppe während ihres zweijährigen Aufenthalts in Europa. Ihre Aufführungen fanden aber nicht – wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre – im Habitat exotischer Sensationen – im Varieté oder in den Vaudeville-Theatern statt – sondern in der Domäne der bürgerlichen Hochkultur – auf den großen Bühnen der Stadttheater und der staatlichen Opernhäuser. Wie schon im Fall Uday Shankars war diese (inhaltliche) und logistische Herausforderung nur auf der Basis eines professionellen Netzwerkes möglich geworden. Eine Schlüsselfigur für die Vermittlung internationaler Performance-Künstler war in den 1902er und 30er Jahren der in Amsterdam operierende Impresario Ernst Krauss (1887 – 1958). Seine Internationale Konzertdirektion hatte sich seit ihrer Gründung 1927 zu einem Drehkreuz für den neuen deutschen Tanz – ebenso wie für die neuartigen Tanzprojekte aus Asien entwickelt. Krauss hatte unmittelbar nach Uday Shankars Debüt, dessen Kompanie unter Vertrag genommen, er organisierte Auftritte für die deutschen AusdruckstänzerInnen Mary Wigmann, Gret Palucca und Harald Kreutzberg ebenso wie für die balinesische Tänzerin Devi Dja – und eben Menakas indischer Balletkompanie.
Die Figur des Impresarios Ernst Krauss ist für die Rekonstruktion der global verflochtenen künstlerischen Moderne in besonderer Weise instruktiv, weil Krauss neben seiner Tätigkeit als Vermittler auch ein eigenes künstlerisches Werk produziert hat: er schrieb eine Reihe von Gedichtbänden, in denen er eine spezifische Spiritualität zum Ausdruck bringt. Krauss’ Texte lassen sich als poetologisches Programm für jene zwischen Asien und Europa verwickelte künstlerische Moderne lesen, vor allem – wie sich zeigen wird – in der Weise, wie sie eine spezifische Idee von ästhetischer Erfahrung verhandeln. In der Folge werde ich einige Umrisse des Zusammenhangs von Ernst Krauss‘ künstlerischer, spiritueller und ökonomischer Praxis rekonstruieren.

Der Dachboden von Ernst Krauss’s Elternhaus in Rieden (Gemeinde Rosengarten).

Rückblick: Scheitern am Gesamtkunstwerk

Am 10. November 1912 war die Stunde für den aufstrebenden jungen Dichter Ernst Krauss gekommen. Die Mannheimer Liederhalle – ein Männergesangsverein mit 40jähriger Tradition hatte ihn beauftragt, anlässlich der Jubiläumsfeier der Chorgründung ein Bühnenstück für den Festakt im Mannheimer Nibelungensaal zu verfassen. Der damals fünfundzwanzigjährige Krauss hatte daraufhin seiner Phantasie freien Lauf gelassen und eine erhebende Inszenierung geplant – eine Art mythische Opferkultfeier zur Verherrlichung der Liedkunst als ureigenem Medium der himmlischen Sphären. Krauss’ mehraktiges Stück drohte den Rahmen der Veranstaltung eindeutig zu sprengen. Als Bühnenbild der Eröffnungsszene schwebte Krauss eine monumentale antike Kultstätte vor, für die er detaillierte Regieanweisungen gemacht hatte:
Bühne: (verdunkelt) Hintergrund: terrassenförmige Erhebung, darauf ein griechischer Tempel tronend [sic!], flankiert von Lorbeer-Pyramiden und buschigen Palmen führen zu diesem empor. Auf beiden Seiten bilden hohe Palmbäume die Kulissen. Der Tempel ist fahl umrieselt vom abgeschwächten Lichtschimmer des hoch stehenden, durch weißgraue Wolkenschleier dringenden Vollmondes. – Minutenlange Stille. – Geräuschlos bewegt sich langsam ein Zug junger Griechinnen, deren Haare gelöst über die Schultern kollern. Sie tragen brennende Fackeln und bilden am Fuße der Terrasse einen Halbkreis.
Aus diesem löst sich eine der Griechinnen, tritt vor gegen die Rampe, den Fackelbrand aufhebend zum Himmel, voller Begeisterung sprechend:

Flamme, lodere auf zum Himmel
Und entfache helle Feuer
Lohnender Begeisterung!
Locke tausend Widerscheine
Deines goldenen Glutenglanzes
weit im Reich der Harmonien.
Hol’ hernieder und vereine
Millionen Melodien,
daß als Lieder sie zur Erde
freudebringend wieder
und durch Menschenherzen ziehen.

Das von Krauss als „Liedweihe“ bezeichnete Rezitativ, sollte den Auftakt zu einer Performance bilden, die sich Krauss als synästhetisches Gesamtkunstwerk ausgemalt hatte und in dessen Verlauf in dramatischer Steigerung ein hinter der Bühne platziertes Orchester, eine Solosopranstimme, ein achtstimmiger Chor und aufwändige Lichteffekte zum Einsatz kommen sollten:
Während der letzten Worte setzt leise hinter der Bühne das Orchester ein mit dem Tongeflüster (das eigens für diesen Zweck komponiert), dieses steigernd zu einem volltönenden jauchzenden Melodien Zusammenklang. Unterdessen hat sich der Halbkreis der Griechinnen wieder in Bewegung gesetzt, der Zug verlässt in Schlangenwindungen die Bühne. Nur die Sprecherin bleibt zurück, setzt mit der noch brennenden Fackel zwei Opferpfannen, die auf hohen Sockeln den Stufenaufgang flankieren, in Brand. Sternenschein und Mondesleuchten verblassen. Leise graut der Morgen und sanftes gelb violett in Purpur bis morgen rot zu fließend flammt hinter den Höhen und um die Tempelsäulen auf. Die zurückgebliebene lauscht noch sekundenlang in Verzückung dem Zauber der Töne und kniet beim Anblick der wundersamen Farben-Harmonieren langsam auf die unterste Treppenstufe der Terrasse, leise das Gesicht mit beiden Händen bedeckend, in dieser Bewegung wie in Anbetung den Kopf neigend, bis dieser einer der anderen Stufen berührt. So in Andacht reglos verharrend. Die Tongebilde hinter der Bühne werden immer farbenreicher und schwellen allmählich an zu flüsternden Akkorden, werden wieder schwächer und im erneuten Wachsen schält sich erst unverkennbar, dann in immer deutlicheren Konturen, der zarte, weiche Schmelz einer Sopranstimme aus dem Chaos der Melodien:

Ich bin das Lied!
Ich bin das Lied,
Das Lied – das Lied!
Ein Kind der Harmonien,
Ein Hauch von tausend Seelen,
Die sich in mir vermählen
zur Seligkeit.

Diese Hymne auf das Lied hätte nun von einem achtstimmigen Chor intoniert werden sollen.
In dem antiken Setting aus Tempelkulisse, Fackeln, Opferpfannen, Sternenschein und Mondesleuchten hatte Krauss schließlich das Finale des ersten Aktes als dramatische Steigerung konzipiert:
Letzter Absatz merklich anschwellend, gesteigert in Wiederholung, am Schlusse begeistertes Fortissimo. Während die Klänge verrauschen, richtet sich, wie aus einem tiefen Offenbarungstraume erwachend, langsam die Gestalt auf, wendet sich leise und breitet, noch ganz in Verzückung, langsam die Arme aus. Das verklärte Antlitz widerspiegelt den Wunsch, all die Schönheit, die Macht der Töne und Farben zu umfassen. Ebenso langsam und leise ziehen sich die Falten des Vorhanges zur Mitte, greifen ineinander und schließen den Akt.
Den zweiten Akt hätte in Krauss’ Vorstellung die eigentliche Festrede bilden sollen – eine feierliche Laudatio an den Mannheimer Gesangsverein als Hort der schönen Künste, unter Würdigung der 40jährigen Tradition, in dem Krauss auch an den Gründungsgeist des Chores aus der Welle national-patriotischer Begeisterung im Anschluss an den deutschen Sieg von 1870 über den „Erzfeind“ Frankreich erinnerte. Der letzte Vers seiner Festdichtung endete mit einem patriotischen Ausruf:

„Vaterland unser Hort
hell das Lied, frei das Wort,
kühn die Tat,
gib Gott, uns die Gnad!“

Für Krauss sehr enttäuschend – war das von ihm als „Liederscheinung“ konzipierte Kernstück seiner Dichtung jedoch nicht zur Aufführung gekommen. Der Mannheimer General-Anzeiger berichtet am 11. November 1912 von den Feierlichkeiten im Mannheimer Nibelungensaal:
„Ein besonders feierlicher Moment war es, als sich der Vorhang teilte und auf der verdunkelten Bühne sich Frl. Mathilde Lohrer von einer Gruppe anmutiger Festdamen löste, und, zwischen lodernde Opferpfannen tretend, in prächtiger Weise einen von dem Vereinsmitglied Ernst Krauss in meisterlicher Art gedichteten, ebenso formschönen wie geistig gehaltvollen Prolog sprach, der in sinniger Weise in dem Wahlspruch des Jubelvereins ausklang.
Offenbar waren lediglich die auf den Anlass des Jubiläums gemünzten Verse mit der patriotischen Schlusspointe vom Fräulein Mathilde Lohrer vor den in Feierlaune versammelten honorigen Herren des Gesangsvereins vorgetragen worden. Auch von dem geplanten monumentalen antiken Bühnenbild waren lediglich die brennenden Opferschalen realisiert worden. Seiner Rezitatorin hatte Krauss aber vermutlich ihre Rolle in einem wesentlich erhebenderen Szenario ausgemalt. Beschämt ob der „ungeeigneten Bühnenverhältnisse und der Zeitknappheit für die Einstudierung“ widmete Krauss dem „Fräulein M.L.“ in seinem ersten Gedichtband „Leben und Liebe“ wo er auch den vollen Text seines Festspiels abdruckte, ein mehrversiges „Erinnerungsbild“, das noch einmal Krauss’ ursprüngliche Vision der Inszenierung beschwor:

Und mit hoch erhobnen Händen,
in der stolzen Ruhe gleichend
einer Göttin aus Olympos,
loderten aus Deiner Seel,
Feuer der Begeisterung zündend,
und entquollen weithin tönend
Deinem Munde meine Worte!…

Und mein Auge, wie im Banne
still an Deinen Lippen hängend,
netzte eine leise Träne,
als das letzte Wort verklungen! —
Durch dein tiefes Sinn-Erfassen,
dies in Deiner Seele spiegelnd,
durch den Wohllaut Deiner Töne,
hast durch meine eigenen Worte
Du mich tief ergriffen.

Das Scheitern von Krauss’ ambitionierten performativen Gesamtkunstwerk war nicht nur den ungeeigneten Bühnenverhältnissen des Mannheimer Nibelungensaals geschuldet. Auch die Erwartungen des Publikums an das Festprogramm gingen wohl in eine andere Richtung, denn die Liederhalle, deren Mitglieder sich aus „gutbürgerlichen Elementen zusammensetzen“ war – wie der Mannheimer Generalanzeiger schreibt – „dafür bekannt, dass es bei ihr immer gemütlich zugeht“. „Jeder konventionelle Zwang ist in ihrem Kreise verpönt. Herzlichkeit, Liebenswürdigkeit und Gemütlichkeit atmen alle geselligen Veranstaltungen.“ Das Publikum war während Krauss’ Weihespiel in Gedanken vermutlich schon bei dem anschließenden Festbankett, bei dem die „Grenadierkapelle unter der Leitung von Obermusikdirektor Vollmer „mit gewohnter Akkuratesse“ aufspielte und bei dem ein „reicher Damenflor in festlicher Toilette“ dem Fest „die erhöhte Weihe“ gab.
Krauss künstlerische Vision scheiterte aber nicht nur an den profanen Umständen des bürgerlichen Vereinswesens, sondern vor allem weil er auf dem Gebiet des dramatischen Musiktheaters zu diesem Zeitpunkt noch völlig unerfahren war. Denn in den Nullerjahren des 20. Jahrhunderts war Krauss gerade erst dabei, sich als Künstler und Schriftsteller zu entdecken und biografisch neu zu erfinden. Krauss’ familiärer Hintergrund hatte ihm eigentlich in der Klassenhierarchie des Kaiserreichs einen Platz an ganz anderer Stelle zugewiesen. Der Vater war Dorfschullehrer in Rieden – einem kleinen Dörfchen im fränkisch geprägten Nordosten Baden-Württembergs. Krauss hatte sich jedoch mit seinem Vater überworfen, weil er die vorbestimmte Lehrerlaufbahn nicht einschlagen wollte und stattdessen eine kaufmännische Ausbildung begonnen hatte.
Während dieser Zeit, die er als „Kampf des Künstlers“ auch in mehreren Gedichten thematisierte, begann sich wie er schrieb – seine „Bestimmung Bahn zu brechen“ . 1914 veröffentlichte er schließlich seinen ersten Gedichtband „Leben und Liebe“ im Leipziger Xenien Verlag.

Gott – Natur – Mensch: Dreiklang der alternativen Moderne

Im Vorwort zu Leben und Liebe legt Krauss die spirituelle Fundierung seiner Poetologie offen. Dazu vergleicht er den Lebensweg des Menschen mit einer Bergwanderung. Diesen allegorischen Spaziergang schildert er mit (spät/neo-)romantischem Pathos als mystische Naturschau:

„Schon bei den ersten Schritten durch die grüngolden funkelnde Wälderpracht, durch die ich von zarten Morgenlicht umtost, die ersten Erhebungen aus dem Alltagsstaube, leichten Herzens und frohen Mutes zu überwinden suchte, erfüllt mich unbewußt eine große Begeisterung für die herrlichen Naturschöpfungen. Meine Augen erblicken in allem Schönes, Erhabenes und Edles. Im Weiterziehen überkommt mich ein wunderbares Gefühl der Gottnähe, das mich freudig aufjauchzen läßt und mich unsäglich glücklich stimmt.“

Krauss’ poetische Wanderung beginnt buchstäblich mit der Metapher des irdischen Diesseits – im Staub – und endet beim Erreichen des Gipfels im Bild der unio mystica schlechthin – der Vision des göttlichen Lichts:

„Wir wissen – : Bald, bald umflutet uns ein neues Licht: reines, schönes, strahlendes Morgenlicht!“

Krauss knüpft mit seiner Bergwanderung an eine klassische mystische Allegorie wie auch an eine literarische Konvention an. (Siehe Dante) Gemessen an der Diagnose einer geschichts- und gottverlassenen Moderne bringt Krauss außerdem in seiner Naturmystik eine geradezu naiv ungebrochene Religiosität zum Ausdruck. In dem Dreiklang „Gott – Natur – Mensch“ offenbarte er diese in einer Art pantheistischem Glaubensbekenntnis:

Gott – Natur – Mensch
Wenn ich im Glanz des Morgensonnenstrahls
Durch taubeträufelt-frische Wiesen schreite,
Wo blumenduft-durchtränkte Lüfte leise,
Wie kosend, lieblich mich umwehen, und Tal
Und Berg, und Flur und Wald grüngolden funkeln,
Wird mir die Wahrheit voll zur Klarheit,
Daß diese Frische, dieses Sprießen,
Die glanzumflossne milde Schönheit,
Die Gottnatur im Allumschließen
Mit zarten Banden mich mit ihr verbindet.
Und Erd‘ zu Himmel, Mensch zu Gott
Sich hier zusammenfindet! –

Gott – Natur – Mensch beschreibt die Idee einer göttlichen Allanwesenheit in der Natur und endet in der Vorstellung einer menschlichen Ganzheitserfahrung. Wieder bildet die Durchwanderung der Natur die Stufendramaturgie der mystischen Erfahrung.
Im Prinzip hatte schon Krauss’ dramatischer Entwurf für den Festakt der Mannheimer Liederhalle versucht, mit den Mitteln bühnentechnischer Überwältigung eine mystische Ganzheits-Erfahrung in Szene zu setzen. Sein Versuch bestand darin – wie Dieter Mersch den performativ-poetologischen Grundzug der Romantik beschreibt – die Distanz zum Betrachter schwinden zu lassen, „um den Augenblick, die Gegenwart des Ereignisses selber darzubieten.“ In den folgenden Jahren seiner Karriere als Literat und Kunstvermittler, bildete dieses Modell der Übersetzung religiöser Gefühle in ästhetische Erfahrungen die Blaupause für Krauss’ Geschäftsmodell. Krauss’ Laufbahn nahm zudem eine unerwartete Wendung, die es ihm ermöglichte, seiner Vision des erhebenden synästhetischen Gesamtkunstwerks auf ganz andere Weise näherzukommen.

Die Marnixstraat 425 in Amsterdam Ende der 1920er Jahre mit einem Transporter der Pavlova-Tournee vor dem Bürogebäude der Internationalen Konzertdirektion Ernst Krauss. Daneben der gleiche Ort 2016.

Tanz als ästhetische Transzendenz-Erfahrung

Mit der Veröffentlichung von „Leben und Liebe“ hatte Krauss zunächst seine biografische Neuerfindung vollzogen. Seinen Entschluss zu einer künftigen Existenz als Dichter unterstrich er außerdem, indem er in Künstlerkreise einheiratete. Krauss hatte die Niederländerin Ecoline Adema kennengelernt, die unter dem Künstlernamen Hovid Hoyd in Amsterdam an einer Gesangskarriere arbeitete. Am 1. August? 1914 heiratete Kraus Ecoline Adema in ihrer Heimatstadt Amsterdam. Zwei Tage später brach der Erste Weltkrieg aus. Krauss wurde zum Wehrdienst eingezogen, entging aber – wie er angab – wegen einer schwerwiegenden Erkrankung dem Fronteinsatz. Den Krieg verbrachte Krauss jedenfalls in einem Sanatorium an der niederländischen Nordseeküste, wo er begann zu publizieren und für seine Frau Konzerte zu organisieren. Offenbar entdeckte er dabei sein besonderes Organisationstalent. 1927? gründete er in Amsterdam die Internationale Konzertdirektion Ernst Krauss und begann in größerem Stil internationale KünstlerInnen zu vermitteln.
Den wirtschaftlichen Durchbruch erreichte er mit seiner Künstleragentur schließlich, weil es ihm gelang, die russische Tänzerin Anna Pavlova unter Vertrag zu nehmen. Anna Pavlova hatte gerade eine Reihe mehrjähriger sehr erfolgreicher Auslandstourneen abgeschlossen und war – auch wenn das Interesse für klassisches Ballett in Europa abzuflauen begann – immer noch ein Weltstar des Kunsttanzes. Mit ihrer Verpflichtung spielte Krauss nun in der Oberliga des europäischen Bühnengeschäfts.
Nachdem Anna Pawlowa am 23. Januar 1931 überraschend während ihrer letzten, von Krauss betreuten Tournee, in Den Haag verstarb, schrieb und veröffentlichte Krauss noch im selben Jahr seine Memoiren an die Tänzerin. Darin schildert er eindrücklich seine erste Begegnung im Anschluss an Pavlovas Australientournee bei ihrem neuerlichen Europa-Debut, (vermutlich am 10. November 1926) in Bremen:
„Zum ersten Mal nach dem Krieg würde die große Tänzerin nach ihrer Rückkehr aus dem Fernen Osten: Indien, Japan und Australien erneut mit einer großen Kompanie durch Europa reisen. Das Ensemble kam mit seinem Star in Bremerhaven an und wenige Tage später sollte die Uraufführung auf dem europäischen Kontinent in Bremen stattfinden. Ich muss zugeben, dass ich nach vielen düsteren Vorhersagen und Warnungen mit unruhigem Herzen in den Zug nach Bremen stieg. Aber kurz nach meiner Ankunft in der alten Hansestadt, als ich vor der edlen Figur der großen Künstlerin stand, ihre dunklen, funkelnden Augen auf mich gerichtet sah und die eleganten Bewegungen dieser königlichen Frau beobachtete, war ich plötzlich von aller Angst befreit. Größere Gefühle hatte noch keine Kunst in meinem Herzen hervorgerufen, als ich am Abend im Theater die Seele dieser göttlichen Frau spürte, überkam es mich: „Als ob diese Sonne funkelnd ihren Glanz in tiefster Zärtlichkeit um mich gewoben“. Ich schämte mich nicht dafür, dass ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, dass sie brennend und zugleich erlösend meine Augen füllten, dass mein Herz wie ein junges Mädchen in Ohnmacht fiel, das seine erste Liebe in der betörenden Süße eines duftenden Frühlingsabends erwachen fühlt. Jeder neue Tanz wurde zu einer neuen Offenbarung für mich – und so ging es mir auch noch nach den hunderten Malen, die ich sie bis zum Letzten, bis zu ihrem Tod sehen sollte.“
Die Weise, in der Krauss jenen Pavlova-Abend auf der Bremer Bühne beschreibt, legt nahe, dass er eine ästhetische Erfahrung ganz im Sinn von Martin Seels Definition des „Ereignisses“ hatte. Seel bestimmt den Charakter des ästhetischen Ereignisses ja darin, wie es „in einem bestimmten biografischen oder historischen Augenblick auf eine bestimmte Weise bedeutsam wird“. Ästhetische Ereignisse im Sinne Seels nehmen demnach ihren Ausgang in einem nicht wahrscheinlichen und bis dahin nicht für möglich gehaltenen Erscheinen. Für diese Lesart spricht, dass Krauss seine ästhetische Erfahrung mit Anna Pavlovas Tanzkunst zu einem Zeitpunkt machte, als das Interesse für klassisches Ballett in Europa am Abflauen war. Wie Josephine Fenger schreibt, fand Anna Pavlova 1928 „nicht nur einen ästhetischen Generationswechsel vor, sondern auch eine eigenständige Tanzkultur: Das Ballett und der Publikumsgeschmack waren dabei, sich zu reformieren. Das „Gran Ballett“ kam aus der Mode und es war schwieriger, „the children of the Jazz, the cinema, the Charleston – and Josephine Baker“ (The B.A. Herald, 10.08.1928) zu beeindrucken.“ Krauss war dieser ästhetische Generationswechsel bewusst. In seinen Pavlova-Memoiren erinnert er an die gängige Meinung der Tanzkritik Anfang der 1930er Jahre:
„Wir waren so überzeugt, dass das Ballett sich überlebt hatte. Max Osborn, einer der vielen, die den Stab darüber gebrochen hatten, sagte: „Ein totes Schema, von kalter Routine zum Scheinleben aufgepeitscht“ und da waren wir ganz einer Meinung. Und hat Oscar Bie nicht gesagt: „Ballette sind Feste der Sinne, wir aber sind auf einer anderen Seite unserer Seele festlich geworden?“
Es war also nicht die Innovativität von Anna Pavlovas choreografischem Konzept, sondern ihre schiere Bühnenpräsenz, die bei Krauss offenbar jene „Festlichkeit der Seele“ entfacht hatte. Krauss’s bewegende Tanzerfahrung aus dem Jahr 1926 ließe sich heute vielleicht am ehesten mit Martin Seels Ereignisbegriff veranschaulichen, demnach ein künstlerisches Objekt mit Ereignischarakter für den Betrachter nicht zwingend neu sein, sondern vor allem „durch seine Präsenz einen Bruch im Kontinuum seines Selbstverständnisses“ bewirken müsse.
Krauss’s emotionaler Ausbruch, die Tränen, die er nicht mehr zurückhalten konnte, lassen sich derart als ästhetische Präsenzerfahrung auffassen. Tanz als Medium ästhetischer Präsenzerfahrungen wird auch in aktuellen religiösen Praktiken auf ähnliche Weise adresssiert. Tatjana K. Schnütgen beispielsweise beschreibt Praktiken des zeitgenössischen Kirchentanzes und veranschaulicht deren Motive über den Begriff ästhetischer Erfahrung: „Der Moment der Präsenz überwindet die Subjekt-Objekt-Spaltung, er verschafft ein intensives Erlebnis und verortet den Menschen körperlich ganz auf der Erde. Ästhetisches Erleben ist das Medium der Produktion von Präsenz.“ Schnütgen hat die Konturen einer Ästhetik der Erfahrung im Tanz unter semiotischen und performativen Gesichtspunkten zusammengefasst. Im Anschluss an Gumbrechts Begriff der Präsenz verweist sie auf den „unhintergehbaren, existentiellen Kern“ des ästhetischen Erlebens, der sich in der Struktur des Wunsches bzw. Verlangens zu sein manifestiert.“ Im „Oszillieren zwischen Präsenzeffekten und Sinneffekten“ komme es zur ästhetischen Erfahrung, die überdies nicht denkbar sei „ohne jenes Verschwimmen beider Dimensionen.“ Daher sei auch, wie Schnütgen im Anschluss an Fischer-Lichte schreibt, die ästhetische Erfahrung als moderne Variante liminaler Erfahrung „an die Stelle von funktionslos gewordenen Ritualen der Gegenwart getreten“.
Wenn auch nicht in dieser Weise über die Begriffe der Performance-Theorie explizit gemacht, so war doch Ernst Krauss’s Vermittlungspraxis intuitiv von den liminalen Qualitäten der zeitgenössischen Tanzkunst geleitet. Das, was Krauss 1912 in seinem weihevollem Bühnenstück für den Mannheimer Gesangsverein vorgeschwebt hatte – nämlich eine erhebende Beschwörung der Kunst als Ort ästhetisch vermittelter mystischer Erfahrungen – das löste sich für ihn vierzehn Jahre später in der virtuosen Perfektion von Anna Pavlovas Performances ein – und zwar mit Blick auf ein Publikum, dass auch bereit war, für diese Erfahrung entsprechend zu zahlen. Krauss schildert die Übertragung seiner ästhetischen Erfahrung in die Geschäftspraxis anschaulich:
Nun, da der Glaube an die unbeschreibliche Schönheit von Anna Pavlovas künstlerischem Ausdruck in mir begründet war, konnte kein Pessimismus mich länger daran hindern, meine Pläne in noch größerem Umfang umzusetzen, als es ursprünglich meine Absicht gewesen war. Dies brachte einige Schwierigkeiten mit sich, vor allem im Hinblick auf den verfügbaren Theaterraum – weil nämlich unsere niederländischen Theater für dieses große Unternehmen eigentlich zu klein waren, vor allem die Stadsschouwburg in Amsterdam. Das habe ich dann auch der Leitung dieses Theaters mitgeteilt. „Wenn Sie die Preise nicht zu hoch machen, können Sie eine Vorstellung wagen“, teilte mir der Direktor der Stadsschouwburg von Amsterdam seine Meinung mit. „Aber ich habe sie gesehen! Sie müssen mir eine ganze Woche geben“, antwortete ich. Und ich meinte das nicht als Scherz! Obwohl das nicht einfach war, mietete ich die Stadsschouwburg für fast eine Woche und hielt die Preise alles andere als moderat. Das ließ sich nicht vermeiden, da die Kosten enorm waren und ich außerdem noch für die Entschädigung des damals fest verpflichteten Ensembles ein paar Tausend zahlen musste, so dass allein die Fixkosten für das Theater etwa tausend Gulden pro Aufführung betrugen.
Dennoch es ist weder ein künstlerischer noch ein finanzieller Fehlschlag geworden. Im Gegenteil!
Die Aufführungen (der russischen Ballerina) in der Stadsschouwburg waren dank Krauss’s Vermittlungsbemühungen ein Erfolg geworden.
In gewisser Weise hatte also Krauss’s Sensibilität für ästhetische Transzendenzerfahrungen Anna Pavlova in der letzten Phase ihrer Karriere zu einer erneuten Präsenz in Europa und Krauss zur Konsolidierung seiner Geschäftspraxis als Kunstvermittler verholfen.

Blick aus dem Fenster von Ernst Krauss’s Elternhaus in Rieden.

Tanz als Mutterkunst: Die Neuordnung anthropologischer Wissensbestände

An der Begegnung mit Anna Pavlova wird anschaulich, inwiefern Ernst Krauss seinen Erfahrungsbegriff des transzendenten Kunstwerks gerade im Tanz umgesetzt sah. Krauss’s Sensibilisierung für Tanz ging aber auch einher mit einer neuen evolutions- und kulturgeschichtlichen Perspektive auf die Theorie des Tanzes. Der Ethnologe Curt Sachs, der gemeinsam mit Moritz von Hornbostel um die Wende zum 20. Jahrhundert begann, die Musikethnologie zu systematisieren, hatte den Tanz bezeichenderweise „unsere Mutterkunst“ genannt, in dem „Schöpfer und Geschöpf, Werk und Künstler“ Eines seien. Die höchste Steigerung des Tanzes sei Sachs zufolge die menschliche Gottsuche. Sachs leitete seine Weltgeschichte des Tanzes aus der Beobachtung von Kulturen her, „in denen der Tanz nicht geächtet wird, sondern heiliger Akt und priesterliches Amt ist, in denen er Sache einer Gemeinschaft ist und mit den wichtigen Momenten individueller und gesellschaftlicher Relevanz verbunden wird“ . Dort habe der Tanz die Chance, „gesteigertes Leben“ zu sein.
Jene zweite, ethnologisch begründete Perspektive auf Tanz als Spiritualitätspraxis erschloss sich auch für Krauss, als er 1936 die Europa-Tournee der indischen Choreografin Leila Roy alias „Menaka“ organisierte.
Menakas Gruppe trat mit drei TänzerInnen und zwei Tänzern, sowie einem Begleitensemble von sechs Musikern auf. Ihr zweiteiliges Programm bestand aus einer Reihe von Arrangements nordindischer Volkstänze und im Hauptteil aus einem sogenannten „Tanzdrama“ – auf der Grundlage verschiedener hinduistischer Mythen. Menaka hatte sich dazu ausführlich mit dem nordindischen Kathak-Stil befasst. Ihre beiden männlichen Tanzpartner Ramnarayan und Gauri Shankar waren professionelle Kathak-Tänzer; die drei Tänzerinnen waren junge Mädchen aus der gehobenen Mittelschicht Bombays, die Menaka selbst ausgebildet hatte. Das Begleitensemble bestand aus professionellen Musikern, die von Sakhawat Hussein Khan, einem einflussreichen Instrumental-Solisten aus Lucknow angeleitet wurden. Die Tournee begann im Januar 1936 in der Schweiz, Luxemburg, Belgien und den Niederlanden und verlief dann für den größten Teil der beiden folgenden Jahre durch Deutschland.
Krauss hatte ein Presseportfolio für Menakas Ensemble zusammengestellt und beschickte von Amsterdam aus die Spielorte in Deutschland mit Werbematerial. Das Narrativ für die Präsentation der indischen Tänzerinnen wiederum hatte er von der Schweizer Bildhauerin Alice Boner übernommen, die mehrere Jahre in Indien gearbeitet hatte, zur Ästhetik indischer Tempelarchitektur publizierte und die schon die Tourneen Uday Shankars organisiert und betreut hatte. Alice Boner hatte einen Artikel zur Theorie des indischen Tanzes geschrieben, den Krauss in seinen Menaka-Programmheften abdruckte. Boner kennzeichnet in diesem Text den Indischen Tanz einerseits als ganzheitliche spirituelle Körpertechnik:
„Der Inder betrachtet den Tanz als die Sprache, den Gesang des Körpers und hält ihn daher ebenso Wert, den Göttern dargebracht zu werden, wie wir die Musik in unseren Kirchen. Er kennt keinen unmittelbareren Ausdruck für seine religiöse Ergriffenheit als den Tanz.“
Zugleich beschreibt Boner den Tanz aber als eine im Verschwinden begriffene authentische kulturelle Praxis des indischen Subkontinents:
„Es sind leider nur noch wenige Zentren in Indien, in welchem diese vollkommene Kunst, die Tanz und Drama von ganz Ostasien befruchtet hat, noch lebendig ist. In Tempeln werden dort die heiligen Epen des Ramayana und Mahabharata noch aufgeführt, auf einfachen Podium, hinter einer flackernden Flamme, zum verwirrenden frenetischen Rhythmus der Trommeln, Gongs und Zymbeln und dem leidenschaftlichen Gesang des Chors. Und das Volk sitzt nächtelang hypnotisiert davor und fühlt die leibhaftige Anwesenheit des Sri Krishna und Rama Chandra.“
Das Narrativ vom indischen Tanz als sakrale Praxis, die es Wert ist, „den Göttern dargebracht zu werden“, bestimmte in der Folge auch die Rezeption der indischen TänzerInnen in Deutschland. Menakas Performances wurden ausführlich von Tanzkritikern in den Feuilletonspalten der deutschen Zeitungen entlang der Spielorte der Tournee besprochen. Viele Kritiker schildern die Aufführungen als intensive Erfahrungen, die ihre performative Kraft vor allem daraus entfaltet hätten, dass die Zuschauer mit einer gewissen Ehrfurcht vor der mythischen Verwurzelung der Choreografien ihre üblichen Wertmaßstäbe suspendierten, und auf diese Weise eine unerwartete ästhetische Erfahrung machen konnten. In Oberammergau beispielsweise hatte der Kritiker seine Beobachtung des indischen Balletts als transzendente Differenzerfahrung beschrieben :
Die ernste Mystik, das träumerisch Göttliche, dass die ganze Linie beherrscht und von ebensolchen Impulsen aufgepeitschte Musikthemen verlangt, ist trotz aller Fremdheit und vielleicht gerade deshalb dazu angetan, eine Rückschau in unser Inneres zu verlangen.
Der Begriff der Fremdheit zielt in dieser Beschreibung nicht nur auf eine Festschreibung der kulturellen Fremdheit der indischen Tänzerinnen, sondern wirkt zurück – sie produziert einen liminalen Erfahrungsraum für den Zuschauer – als „Rückschau im Inneren“. Viele der Menaka-Rezensenten stellen ihre Betrachtungen außerdem explizit in den Zusammenhang einer Verlusterfahrung der Moderne:
Wunderland Indien! Uns Kindern der Moderne, der Flugmaschine und des Radio nicht mehr so zauberisch verklärt, wie unseren Ahnen, aber doch immer noch von einem geheimnisvollen Schleier bedeckt, den zu lüften, oder wenigstens ein wenig drunter zu schauen, wohl jeden von uns schon einmal gelüstete.
Aus der zivilisationskritischen Perspektive werden denn auch die Aufführungen des indischen Balletts als Vorbild für ein Projekt der geistigen Erneuerung des deutschen Menschen gelesen:
Denn hier trat uns an einem deutlich sichtbaren Beispiel die enge Verbundenheit zwischen Mensch und Kosmos entgegen, die unsere Kultur seit Jahrhunderten als Kraftquelle verloren zu haben schien. Diese Verbundenheit wiederzufinden, ist auch eine Aufgabe der Gegenwart, und in ihr wird der Tanz des Glaubens eine wichtige Mission zu erfüllen haben.
In diesem postreligiösen Projekt der Gegenwart, das der Magdeburger Tanzkritiker auf diese Weise formuliert, fallen die ästhetische und spirituelle Erfahrung direkt ineinander.
Die derartige Hinwendung zum kulturellen tänzerischen Körper hat Inge Baxmann treffend als Phänomen einer generellen „Neuordnung anthropologischer Wissensbestände“ gekennzeichnet. Für Ernst Krauss widerum löste sich in den Aufführungen des Menaka-Balletts in Europa einmal mehr die transzendente Qualität des Tanzes ein – nun auch untermauert mit einer gewissen wissenschaftlichen Autorität anthropologischer Erkenntnisse.

Fazit

Die Praxis der Kunstvermittlung durch die Internationale Konzertdirektion Ernst Krauss ist exemplarisch für eine spezifische Verschränkung von Glauben, Wissen und ästhetischer Erfahrung in den performativen Künsten im Europa der 1920er und 30er Jahre.
Anhand von Krauss’ Biografie wird zunächst anschaulich, wie die Ideen einer geistigen Erneuerung des Menschen um die Jahrhundertwende in allen Bereichen der kulturellen Produktion ihr Wirkkraft entfalteten und wie infolgedessen insbesondere die performativen Künste als Schnittstelle ästhetischer Erfahrung ausgebaut wurden. An der Karriere des Künstlers und Kunstvermittlers Ernst Krauss lässt sich auch beobachten, inwiefern diese geistige Strömung sich als Reflex auf den Einbruch der Moderne in alle individuellen Lebensbereiche vollzog. Die Weise, in der Krauss seinen Lebensmittelpunkt vom ländlich geprägten Alltag der schwäbischen Provinz in die wachsende Großstadt Amsterdam verlagerte, ist exemplarisch für vielfach geteilte Erfahrungen seiner Generation.
Krauss verarbeitete diese Erfahrungen zunächst in seinem dichterischen Frühwerk. Seine Selbsterfindung als Künstler und Kunstvermittler vollzog sich dabei in einer Rhetorik, die sich seit der Romantik als ein spezifischer Modus kritischer Reflektion der Moderne herausgebildet hatte. In der Stilisierung der Natur als Gegenort der modernen Großstadt entdeckte Krauss eine schlüssige literarische Formel – und konstruierte damit Projektionsflächen für vielfältige Reflexe der lebensweltlichen Erfahrungen seiner Leserschaft um die Jahrhundertwende. Krauss’ Kunstbegriff ist explizit transzendent. Er übertrug Äußerungen von Alltagsreligiösität unmittelbar in naturmystische Sprachbilder und entwickelte so schließlich eine bemerkenswerte Intuition für die Dynamik der Transferprozess von religiösen Praktiken in den Bereich des Ästhetischen. Seine eigene künstlerische Praxis als Schriftsteller diente ihm dabei als „Scharnier“ in einer „umgekehrten“ Ökonomie künstlerischer Produktion. Auf diese Weise konnte Krauss nicht nur als kommerzieller Vermarkter künstlerischer Arbeit auftreten, sondern zugleich auch als uneigennütziger Makler, dem an der Sache mindestens ebenso viel gelegen war, wie am Profit. Die Positionierung seiner Künstleragentur in Amsterdam ermöglichte Krauss desweiteren eine privilegierte Teilhabe an der Produktion performativer Gegenwartskunst. Krauss arbeitete mit einer ganzen Reihe von international bekannten MusikerInnen und SchauspielerInnen und prägte so das europäische Theaterleben über die Niederlande hinaus. Er vermittelte KünstlerInnen aus den verschiedensten Genres, zeigte aber ein besonderes Interesse für den zeitgenössischen Tanz. So hatte er insbesondere Anteil an der Spätphase der Karriere Anna Pavlovas – einer Tänzerin, die nicht nur an der Schnittstelle von klassischem Ballett und modernem Ausdruckstanz arbeitete, sondern auch Verbindungen zu den lokalen Tanzkulturen außerhalb Europas herstellte. Beispielhaft dafür ist Leila Roys indisches Ballett – eines der ersten Projekte indischer KünstlerInnen, die mit der Ideen- und Formenwelt des europäischen Bühnentanzes ebenso wie mit traditionellen indischen Tanztechniken experimentierten und diese Ergebnisse lokaler Modernität schließlich vor einem europäischen Publikum präsentierten. Der ethnografische Aspekt dieser Vorführungen erweiterte das Feld der Tanzrezeption in Europa in besonderer Weise um eine anthropologische und kulturelle Komponente. Die Inszenierungen der indischen TänzerInnen bedienten einerseits das Phantasma kultureller Ganzheit und spiritueller Verwurzelung, produzierten aber zugleich auch Alteritätseffekte, die zumindest von Teilen des Publikums nicht nur als eskapistische, exotische Attraktion aufgefasst wurden, sondern in einen neuen Modus ästhetischer Anschauung eingebunden wurden. Die Vermittlungsarbeit der internationalen Konzertdirektion Ernst Krauss beförderte auf diese Weise Diskurse kultureller Alterität nicht nur wie Baxmann schreibt – als „Agenten einer bewußten Dynamisierung überkommener Wissensordnungen und ihrer Aufteilungen“ , sondern auch als Mittler eines anhaltenden Transferprozesses vom Feld der Religion in die Kunst.

Dokumentenanhänge: Auswahl von Unterlagen aus dem Krauss-Nachlass